Postmoderne und Moderne – wo liegen die Unterschiede

 

Ein Artikel aus der Zeitschrift „Praxis“

 

Ist modern jetzt plötzlich nicht mehr gleich gut? Postmodern besser? Reinhold Scharnowski unternimmt eine Klärung einiger Begrifflichkeiten in diesem Fragenfeld. Einige Missverständnisse müssen so gar nicht auftauchen.

 

Die Moderne

 

Die Moderne, wie wir sie hier verstehen, umfasst eine Epoche von ca. 500 Jahren, nämlich die Zeit von der Renaissance (Beginn des 16. Jahrhunderts) bis rund zum Ende des 20. Jahrhunderts. Was kennzeichnet nun die Moderne?

 

Kennzeichen des „modernen" Zeitalters

 

Universale Wahrheit und Objektivität

 

Die Moderne - vor allem die Aufklärung ging davon aus, dass es universale Wahrheiten gibt, die für jeden gelten, egal ob sie nun naturrechtlich oder theologisch begründet  werden. Diese Wahrheit kann objektiv erkannt werden, wenn sie klar genug dargestellt bewiesen wird. Das Ziel ist Übereinstimmung der Erkenntnis.

 

Rationalität und Wissenschaftlichkeit

 

Die Welt ist begreiflich und vernünftig. Das Hauptorgan der Erkenntnis ist der Verstand. Er ist zu objektiver Erkenntnis fähig und muss immer mehr daraufhin trainiert, d.h. von störenden Faktoren befreit werden. Das ist vor allem die Aufgabe der Wissenschaft als Schiedsrichter der Wirklichkeit; das Wissen, das sie hervorbringt, ist wahr (bzw. nähert sich der Wahrheit maximal an). Wertfreiheit und Objektivität sind ihre Ideale.

 

Klassische Logik

 

Die Logik der Moderne ist gradlinig und eindimensional und lebt vor allem vom Entweder-Oder: Zwei Aussagen können nicht gleichzeitig richtig sein, wenn sie sich widersprechen. Man muss immer versuchen, Widersprüche aufzuheben und zu versöhnen

 

Der Glaube an eine Ordnung und an Gesamtentwürfe

 

Es gibt eine Ordnung, die sich z.B. im Recht niederschlägt. Eine  große Aufgabe  der Moderne ist es darum, das Chaos zu ordnen und zu befrieden. Ebenfalls glaubt sie an große Ziele und Gesamtentwürfe, die die Gesellschaft teilt (wie z. B. Ehre, Vaterland usw.) Die Moderne, vor allem das 19. Jahrhundert, ist darum die Zeit der Ismen: Rationalismus, Humanismus, Marxismus, Sozialismus, Faschismus, Liberalismus, Kapitalismus, Nationalismus - alles Lehren, die davon ausgehen, dass sich die Wirklichkeit unter einem Aspekt befriedigend erklären und ordnen lässt.

Singularität

 

In der Moderne gilt das eine große Ding. Leadership, der eine Sänger, die eine Wahrheit. Man weiß zwar, dass man Dinge auch anders sehen könnte, verteidigt aber das Eine, das man selbst sieht. Worüber hat die Kirche sich in den letzten 500 Jahren gestritten? Es waren vor allem Lehrfragen. Man glaubt das Rechte, und in der Praxis bedeutet das: Es gibt nur eine richtige Art, das zu glauben. Wenn du nicht glaubst wie ich, müssen wir das irgendwie klären.

 

Der Glaube, dass Sprache rational und transparent ist

 

Die Sprache bedeutet in der Moderne genau das, was sie sagt. Exakte Kommunikation ist möglich bzw. wird angestrebt. Wenn wir uns nur von allen störenden - d.h. subjektiven Faktoren reinigen, sollten wir uns objektiv verstehen können.

 

Dauerhaftigkeit

 

Was der Mensch erbaut und erstellt, muss dauerhaft sein, seien es Gedankengebäude, Strukturen oder Häuser. Weil Wahrheit ewig und immer gleich ist, müssen auch die irdischen Ausdrucksformen davon von Dauer sein. Weil „objektive Wahrheiten" universal gültig sind, ist es ein Ziel der Moderne, dass z. B. Gebäude oder Marken überall auf der Welt gleich sind. Die Häuser Le Corbusiers sollten überall stehen können. Und McDonalds ....

 

Die Postmoderne ab ca. 1970

 

Der Begriff bezeichnet eine neue Denkweise, die den Optimismus, die Vernünftigkeit, die Einheit und die Ziele der modernen Kultur kritisch hinterfragt  und  zum  Ergebnis kommt, dass das alles nur „Konstruktionen" sind. Die Wirklichkeit ist anders: zersplittert, widersprüchlich, subjektiv, chaotisch. Die postmoderne Wirklichkeits-Schau ist darum zunächst eine „Dekonstruktion" der selbstverständlichen Denkvoraussetzungen der Moderne. Warum soll der Mensch eine Einheit sein? Warum sollen wir große, gemeinsame Ziele anstreben, wenn doch die nächste Ferienreise vor der Tür steht? Schon Brecht  stellte fest „erst kommt das Fressen, dann die  Moral".

 

 Und warum sollten wir annehmen, was uns  die Politiker, Wissenschaftler und andere  Weltverbesserer versprechen - dass nämlich  die Welt besser wird? Wer weiß überhaupt,  was besser ist? Die Moderne hat auf diese  Fragen keine Antwort.

 

 Die Postmoderne macht die Not der Moderne  zur Tugend: Jeder muss / darf / soll in jedem  Augenblick selbst entscheiden, was für ihn  richtig ist. In einer globalisierten Welt mit  Dutzenden von Kulturen, die miteinander im  Austausch stehen und in denen wir uns  abwechselnd bewegen, geht es nicht mehr an,  dass eine Kultur die allein gültigen Antworten   gibt. Wir können nicht mehr fragen „wer hat  recht und wer nicht". Postmoderne fragen  stattdessen eher „welche Ansätze geben mir  die besseren Antworten?"  Im Folgenden sind einige deutliche Unter schiede zwischen der Postmoderne und der  Moderne aufgeführt, die nicht zuletzt für die  Gestaltung unseres christlichen Lebens und  Arbeitens von Bedeutung sind:

 Das Subjekt ist entscheidend - wenig Interes se an Objektivität

 

 Ich bin der, der die Welt auf eine bestimmte  Art wahrnimmt. Das ist das einzig Wichtige.  Die Postmoderne macht mit der Tatsache   Ernst, dass zu einer Botschaft immer drei   Dinge gehören: der Sender, die Botschaft und   der Empfänger. Der Empfänger entscheidet,   was ihm wichtig ist. Damit hat in der Postmoderne der Einzelne viel mehr Verantwortung, welche Wahrheit er für sich annehmen will.

 

Weiter interessiert ihn nicht nur, was jemand zu sagen hat, sondern vor allem, in welcher Situation diese Botschaft entstanden ist und wie der Redende sich jetzt fühlt. Er hat ein Ja zu der (nicht neuen) Erkenntnis, dass alle Wahrheiten (auch z. B. theologische Aussagen) einen Sitz im Leben haben und davon wesentlich mitbestimmt werden. Er ist aber auch bereit, zu geben, d. h. aktiv zu etwas beizutragen. Darum sind partnerschaftliche Beziehungen statt einseitiger Abhängigkeiten wichtig.

 

 Keine Große Erzählung mehr

 

 Der postmoderne Mensch glaubt nicht mehr  an die eine Ordnung oder den einen Gesamtentwurf. Große Worte und Pathos sind ihm  zutiefst verdächtig. Sämtliche Ismen (zu  denen auch das Christentum gezählt wird)  als einziges Erklärungsmodell lehnt er ab. Er  braucht viele Erzählungen, um die Wirklich keit auf vielerlei Art zu beleuchten.

 

 Skepsis statt Optimismus

 

 Im letzten Viertel des 20. Jahrhundert hat der

 Optimismus der Moderne einer tiefen Skepsis Platz gemacht. Professioneller Optimismus, Glaube an Fortschritt und Perfektion ist  verdächtig, ebenso allzu strahlend vorgebrachte Überzeugungen; man traut denen  nicht mehr, die behaupten, für alles gäbe es  eine Lösung.

 

 Neue Logik

 

 Im Denken des postmodernen Menschen  werden Widersprüche bis zu einem gewissen  Grad durchaus integriert. Die Logik ist nicht  mehr das einzige Kriterium für Wahrheit.  Das Paradoxe als Teil unserer Wirklichkeit  wird geschätzt. Nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten werden betont.

 

 Ablehnung von Negativem

 

 Postmoderne Menschen betonen das Recht,  eine ganz andere Meinung zu haben. In einer  Zeit nach dem Holocaust verstehen sie, dass  Subkulturen und Volksgruppen ausgerottet  werden können, wenn sie nicht geschützt  werden. Da, wo der moderne Mensch kämpferisch für eine Idee eintritt, ist der postmoderne tolerant bis zum Extrem.  Das bedeutet nicht, dass postmoderne Menschen keine Absoluta mehr haben (ein häufiges Missverständnis). Ihre Ethik ist nur  anders als die der Moderne. Versuchen Sie   einmal, einen geschützten Baum umzusägen oder eine Kanne Altöl am Strand auszuleeren, und schauen Sie, wer protestiert.

 

Ein dynamisches Weltbild

 

Statt eines Standpunktes spricht ein postmoderner Mensch eher vom Weg, auf dem er ist.

Die Pilgerreise - inklusiv der Erfahrung des

Unterwegs-Seins - ist das Symbol des Glaubens eines postmodernen Menschen.

 

Spiritualität und Rationalität

 

... sind keine Gegensätze. Der postmoderne Mensch weiß, dass der Verstand allein die Welt nicht adäquat erfassen kann und ist darum sehr offen für spirituelle Führer. Man lebt viel ganzheitlicher als der rationalistisch geprägte Mensch der Moderne. Erfahrbarkeit ist wichtiger als rationelle Einsichtigkeit. Der postmoderne Mensch ist intelligent, aber nicht unbedingt im rationalistischen Sinn.

 

 Mit dem Chaos leben

 

 Statt Ordnung um jeden Preis herzustellen, lernen postmoderne Menschen, das Chaos zu  surfen. Wer diese Kunst beherrscht, wird  kaum untergehen. Wer Ordnung als höchstes  Lebensprinzip hat, wird zunehmend in Stress  geraten.

 

 Gemeinschaftlichkeit

 

 Der Mensch der Moderne ist Individualist,  der postmoderne Mensch Individualist in  Gemeinschaft. Beziehungen sind entscheidend wichtig. Der postmoderne Mensch ist in  der Regel erst bereit, jemandem zuzuhören,  wenn er eine Beziehung zu ihm hat. Auch bei  einer Rede oder einer Predigt fragt er, in welcher Situation der Redende jetzt steht bzw.  diese Rede abgefasst hat.  Unschwer erkennbar sind die meisten Ausdrucksformen des evangelikalen Christseins  - einschließlich dessen, was man landläufig  „Gemeinde" nennt - ein Produkt der Moder ne. Es ist daher völlig verständlich, dass viele  Werte der Postmoderne als Bedrohung der  etablierten Christlichkeit empfunden werden.  Es scheint mir für die Kirche überlebenswichtig, den postmodernen Wertewandel als  Chance zu begreifen (und zwar durchaus prophetisch-kritisch) und neue Ausdrucksformen des Glaubens zu entwickeln, die übrigens in vielem erstaunlich den ganz alten  ähneln.

 

Reinhold Scharnowski ist seit 1999 europäischer Koordinator im DAWN European Network (DEN) (www.dawneurope.net). Er ist verheiratet mit einer reformierten Pfarrerin und leitet heute ein Hauskirchen-Netzwerk